Ernst-Gerhardt Scholz

aufgewachsen in der Königstraße 3

Selbstportrait, E.G. Scholz, 2013

Geboren am 30. November 1936 in Elmshorn, wuchs Ernst-Gerhardt Scholz in der Königstraße 3 auf. Hier betrieben seine Urgroßeltern, Großeltern und schließlich auch seine Eltern eine Gastwirtschaft mit dem Namen “Gerhardt’s Gasthaus”. Heute lockt hier das “Broderick” mit irischem Bier.

Der Junge erhielt den Vornamen Ernst-Gerhardt, denn so hieß sein aus Kiel-Wellsee stammender Urgroßvater mit Vor- und Nachnamen: Ernst Gerhardt. Deshalb auch das “dt” am Ende.

Ernst-G. Scholz, E.G. Scholz oder auch E.G.S. wie er sich selbst gerne abkürzt, kam 1943 in die Blaue Schule, die sich damals noch Adolf-Hitler-Schule nannte. Danach ging er auf die Bismarckschule, die er 1954 mit der Mittleren Reife verließ, um in Hamburg eine kaufmännische Lehre zu absolvieren.

Seine Leidenschaft war das jedoch nicht.

Die entdeckte er um 1960, als er mit dem Fotografieren begann und damit beruflich eine ganz andere Richtung einschlug: 1964 wurde Scholz – nach knapp zwei Jahren freier Mitarbeit – der erste festangestellte Fotograf der Elmshorner Nachrichten. Das dauerte bis Mitte 1971.

Inzwischen auch firm in der Zeitungsschreibe, wechselte er zur Hamburger Morgenpost, blieb dort bis 1980 und arbeitete schließlich als mit Text und Fotos vertrauter Redakteur beim Hamburger Abendblatt. Bis zur Rente 2002.

Im folgenden Text beschreibt Scholz Kindheitserinnerungen mit der Königstraße im Mittelpunkt.

Heimat ist Erinnern – Ernst-Gerhardt Scholz

von Ernst-Gerhardt Scholz

Krückau, Schul- und Holstenstraße, Bahnhof. Das war meine engere Heimat. In diesem Geviert erlebte ich den größten Teil meiner Kindheit. Aufgewachsen in der Königstraße 3, hatte ich den Spielplatz vor der Tür. Genug Platz zum Tick- und Versteckspielen, Bolzen, Dreiradfahren. Rollschuhlaufen lernte ich auf dem asphaltierten Teil der Königstraße. Märchen- und Kasperfilme sah ich im Apollo oder in den Kammerlichtspielen.

Und die meisten Freunde wohnten in der Nachbarschaft: Jörn, dessen Vater eine Tischlerei an der Ecke Norderstraße hatte, Jens, der in einem Frisörgeschäft zu Hause war, Uwe und Peter, die bei der Meierei wohnten, sowie die Brüder Günter, Werner und Gerd aus dem Eckhaus Matthias-Kahlke-Promenade.

Der Straßenverkehr damals war eher beschaulich. Pferd und Wagen bestimmten das Bild, auch Radfahrer. Autos waren die Ausnahme.

Gaststätte in der Königstraße

Wo heute das Broderick mit Guinness und irischer Folklore lockt, hatten schon meine Urgroßeltern und Großeltern eine Gaststätte. Das Bier wurde in Holzfässern angeliefert. Sie lagen auf dem Fuhrwerk, dessen Ladefläche schräg zur Mitte zulief, damit die Fässer nicht runterrollen konnten. Etliche hingen auch noch unter dem Wagen.

Gasthof und Restaurant Ernst Gerhardt in der Königstraße 3, um 1920. Foto: Privatbesitz

Ich habe noch die Geräusche im Ohr, wenn der Bierwagen kam: Das dumpfe Poltern, wenn ein Fass auf eine dicke Kokosmatte am Boden plumpste, das Knirschen der eisernen Fassreifen auf dem Bürgersteig und das erneute Plumpsen, wenn das Fass endlich über eine schiefe Ebene im Keller verschwand.

Derweil standen die beiden Pferde gleichmütig vor dem Wagen und steckten ihre Köpfe in die Futtersäcke, die ihnen der Kutscher umgebunden hatte. Und ständig hörte man am Klang der Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster, dass der Bierkutscher noch da war. Sei es, um abzurechnen oder auf ein Lütt un Lütt. Nicht selten erleichterten die Tiere während der Wartezeit Blase und Darm. Wobei es dann zuweilen bis an die Hausmauer spitzte und gewaltige Mengen dampfende Flüssigkeit in den Gully rannen. Die Pferdeäpfel fegte mein Großvater zusammen, tat sie in einen Zinkeimer und brachte sie später auf das Stückchen Kleingarten, das er in der Flora-Promenade beackerte.

Kindheit im Zweiten Weltkrieg

Ende 1936 geboren, fielen meine ersten Kinderjahre in die Nazi- und Kriegs-Zeit. Umzüge und Marschkolonnen sind in meiner Erinnerung und Hakenkreuzfahnen, die von Häuserwänden hingen. Männer in brauner Uniform saßen oft in unserer Gaststätte, die ein SA-Sturmlokal war. Mein Vater war auch dabei. Als meine Eltern heirateten, trug mein Vater eben diese SA-Uniform.

Mit vier Jahren durfte ich auf einer Kiste hinter der Theke stehen und zum Vergnügen der Gäste Bier ausschenken. Ich erinnere mich auch daran, dass einmal zu später Stunde ein Polizist erschien, der dafür zu sorgen hatte, dass die Sperrstunde eingehalten wurde. Dann schloss mein Großvater Willi die Tür ab, der Polizist lockerte sein Koppel und bekam ein Köm und Bier. Als er ging sagte er noch: „Willi, bliff `n gooden Minsch.“ Und Willi entgegnete: „Un du ward een.“

Spät abends standen öfter mal Gäste – es waren wohl zugleich auch gute Bekannte – ganz dicht um ein Radio herum und hörten Nachrichten, die offenbar mit dem Krieg zu tun hatten. Der Sender war sehr leise eingestellt, und wenn nicht gesprochen wurde, kamen in regelmäßigen Abständen vier dumpfe Trommelschläge und die Stationsansage: „Bumm bumm bumm bamm, hier ist der Londoner Rundfunk“.

Bombenangriffe auf Elmshorn

Schräg gegenüber unserem Haus stand der für Kinderaugen riesige „Holsteinische Hof “, das größte Hotel der Stadt. Als der Bombenangriff vom 2. auf den 3. August 1943 vorbei war und wir aus dem Keller auf die Straße konnten, sah ich dieses große Gebäude lichterloh brennen.

Das Hotel “Holsteinischer Hof” stand bis 1943 an der Königstraße 2-4. Hier die Rückseite des Hauses mit Gartenansicht. Postkarte von 1907. Sammlung IME

Unser Haus und auch die Häuser daneben blieben heil. Zwar waren auch auf unserer Straßenseite die sechskantigen Stabbrandbomben niedergegangen. Sie hatten jedoch ihr Ziel um wenige Meter verfehlt und waren auf den Bürgersteig gefallen.

Je länger der Krieg andauerte, desto häufiger mussten wir, meist nachts, in den Keller. Wenn meine Mutter mich weckte, sagte sie, dass jetzt die „Schweinehunde“ mit ihren Flugzeugen kämen. Damit meinte sie die Engländer, die sie oft auch als Tommies bezeichnete.

Informationsquelle über einen bevorstehenden Alarm war das Radio. Eine tickende Uhr war das Signal, dass jederzeit neue Luftlagemeldungen kommen konnten. Hörte das Ticken auf, meldete sich ein Mann, der die Position der „feindlichen Bomberverbände“ bekannt gab. Mal hieß es, sie seien „im Anflug auf die Deutsche Bucht“, dann wieder „auf Hannover und Braunschweig“. Wobei er Hannover immer so aussprach als würde es mit „w“ geschrieben: „Hannower.“ Der Ansager, der angeblich in einem Hamburger Hochbunker saß, hieß bei uns „Onkel Baldrian“. Wegen seiner ruhigen Stimme.

Hatten die Flugzeuge eine bestimmte Grenze erreicht, heulten die Sirenen und wir gingen in den Keller. Das geschah aus Kindersicht völlig ohne jede Hektik und gehörte für mich auch schnell irgendwie dazu. Zumal die Bomberströme keineswegs Elmshorn zum Ziel hatten. In der Nacht auf den 3. August 1943 war das allerdings anders. Da fielen Bomben auch auf die Krückaustadt. Es heulte wenn sie zu Boden fielen, dann gab es eine kurze Pause und es krachte gewaltig. Das Haus erbebte, blieb aber heil. Ich weiß es noch wie heute, dass meine Tante sich in eine der bereitliegenden nassen Wolldecken gehüllt hatte. Sie weinte leise vor sich hin und zitterte am ganzen Körper.

Je länger der Krieg dauerte, desto mehr verlagerten sich die Angriffe auch auf den Tag. Einmal erlebte ich, wie ein Tiefflieger einen Zug auf dem Bahndamm an der heutigen Berliner Straße beschoss. Der Zug hielt auf freier Strecke, die Menschen sprangen heraus und suchten Deckung unter dem Zug und neben dem Bahndamm. Ich selbst flüchtete mich in eine Erdkuhle. Anfliegende Flugzeuge, vor denen ich weglaufe, tauchen seitdem in meinen Träumen auf.

E.G. Scholz bei seiner Einschulung im Jahr 1943. Das Foto wurde im Garten des Holsteinischen Hofs aufgenommen. Foto: Privatbesitz

Wenn ich in der Blauen Schule saß, passierte es, dass ein älterer Schüler die Tür aufriss und „L 15“ rief. Das hieß „Luftgefahr 15“ und bedeutete, dass bis zum Eintreffen der Flieger noch etwa 15 Minuten Zeit blieben. Schüler, die innerhalb dieser Zeit nach Hause laufen konnten – ich gehörte dazu – durften gehen. Alle anderen mussten in den schuleigenen Luftschutzbunker.

Bunker gab es überall in der Stadt. Ich erinnere mich an einen, der sehr spät gegenüber der Fleischwarenfabrik Wetzel in der Berliner Straße gebaut wurde. Heute steht da eine Auto-Waschanlage. Und an den Bunker im Fußgängertunnel unter den Gleisanlagen des Bahnhofs – welch ein Wahnsinn! Da saßen dann die Menschen auf Holzbänken an den gekachelten Wänden und die Eingänge wurden mit Stahltüren verschlossen.

Unter den Schutzsuchenden war auch „Hannes mit’n Stutenkorf“, ein geistig behinderter, aber stets freundlicher Mann, der als Original galt. Heulten die Sirenen Entwarnung, freute er sich und rief: „Warnusch! Warnusch!“

Spielen in den Trümmern

Trotz der Zerstörungen waren die Trümmer für uns Kinder eine durchaus spannende Sache. So spielte ich mit meinen Freunden in dem frisch ausgehobenen breiten Graben (vermutlich sollte hier ein weiterer Bunker gebaut werden) in der Grünanlage zwischen dem alten Rathaus und dem Garten des Holsteinschen Hofes. Oder in der großen Sandkiste daneben, in der wir Burgen bauten und sie mit Sandkugeln bombardierten. Kam ein Polizist vorbei, sprangen wir auf, stellten uns in einer Reihe auf und riefen mit erhobenen Armen „Heil Hitler“.

Heute weiß ich natürlich, was die Nazizeit bedeutete. Aber damals? Ich weiß von mir, dass ich neidisch auf alle älteren Jungs war, die schon zur Hitler-Jugend durften. Ich wollte doch auch dazugehören und so eine schwarze, kurze Cordhose tragen und einen Dolch.

Rund um den „Holsteinischen Hof

Ein wahres Kinderparadies war auch die nach dem Bombenangriff weitgehend intakt gebliebene Kegelbahn des Hotels „Holsteinischer Hof“. Wir stellten leere Flaschen auf und zerdepperten sie mit den schweren Kugeln. Und wir pulten an die hundert Bilder von irgendwelchen Kriegsveteranen aus einem verglasten Rahmen und verteilten sie untereinander. Bis eines Tages die Polizei kam und alles wieder einsammelte. Der Rahmen mit den vielen Bildern gehört heute zum Inventar des Konrad-Struve-Hauses.

Ein Traum war auch der parkartige Hotelgarten. Er nahm in etwa die Fläche des heutigen Holstenplatzes ein. Die Matthias-Kahlke-Promenade verlief damals noch bis zur Königstraße und wurde begrenzt von der Buchenhecke des Hotelgartens und einer Ahornhecke zur Bahn hin. Diese Hecke war eine ganz besondere. Sie bestand aus besenstieldicken Stämmen, die kunstvoll über Kreuz geflochten und zusammengewachsen waren. Hier habe ich Maikäfer in Streichholzschachteln gesperrt und erste Fahrversuche mit meinem Kinderrad gemacht – erleichtert durch die abschüssige Wegführung der Promenade in Richtung Schulstraße.

An der Einmündung der Matthias-Kahlke-Promenade in die Königstraße stand zu der Zeit ein hochmoderner Stadtplan. Er war in der Lage, mittels Tastendruck die Stelle auf dem Plan aufleuchten zu lassen, die man gewählt hatte. Allerdings wurde der Plan in der Bombennacht beschädigt. Was uns Jungs dazu einlud, seine Innereien zu untersuchen. Und siehe da, hinter jeder der Drucktasten befand sich ein Glasröhrchen mit einer silbrigen Flüssigkeit: Quecksilber.

Wir waren ahnungslos, aber begeistert, zerschlugen die Röhrchen und gossen das Quecksilber zusammen. Jeder bekam was ab, ich trug es in einer Blechdose nach Hause, weiß aber nicht mehr, wo es letztendlich geblieben ist.

Der Stadtplan stand an der Ecke Königstraße / Matthias-Kahlke-Promenade (heute Köz Divan), um 1940. Foto: Privatbesitz

So um 1947 herum hatten wir den mit prächtigen Kastanienbäumen bestandenen Hotelgarten in einen Bolzplatz verwandelt. Auch zogen wir die bleiummantelten Erdkabel heraus, die zwischen den Gartenlaternen verlegt waren. Das Blei wanderte zum Schrotthändler. Aus einigen Stücken aber machten wir Munition für unsere Katapulte. Wir schossen damit auf Krähen, die damals schon die Stadt besiedelten. Manch einer der schwarzen Gesellen wurde getroffen und anschließend auf einem der eisernen Gartentische seziert.

Rumkugeln und Briefmarken

Natürlich sammelte ich zu der Zeit auch Briefmarken. Wollte ich eine kaufen, ging ich in die Drogerie Erhard in der Holstenstraße. Gleich links neben der Eingangstür hatte Herr Wendorf Tisch und Stuhl aufgestellt und verkaufte Briefmarken. Kurt Wendorf ist seitdem für mich der Erfinder der modernen Verkaufsmethode des „Shop-in-Shop“.

Gegenüber der Drogerie hatte Bäcker Nagel sein Geschäft. Dahin wurde ich öfter zum Kuchenholen geschickt. Bei Nagel lernte ich erstmals künstliches Rum-Aroma und Rumkugeln kennen. Die allerdings früher viel kleiner waren als heute.

Zu Briefmarken fällt mir noch ein, dass mein anderer Großvater Berthold mal mit einer relativ selten benutzten 42-Pfennig-Marke zum Postschalter in der Königstraße gegangen war, um sie dort abstempeln zu lassen. Er muss den Schalterbeamten gut gekannt haben, denn der datierte den Stempel auf meinen Geburtstag vor. Zwei Tage später bekam ich die Marke geschenkt. An meinem Geburtstag. Ein wahrer Schatz, den ich noch besitze.

Mein Großvater Willi, der das Lokal in der Königstraße 3 betrieb, war zugleich Lokomotivführer. Eines Tages erfüllte sich für mich ein Traum: Ich durfte mit auf seine Rangierlok und zusehen, wie er Hebel umlegte und an Rädern drehte und wie der Heizer den Kessel befeuerte. Das Fahrrevier ging vom Güterbahnhof an der Klaus-Groth-Promenade bis Tornesch. Im Elmshorner Bahnhof musste ich mich allerdings ducken, damit der Bahnhofsvorsteher nicht aufmerksam wurde. Ein Modell der Lok, Baureihe 74, steht seit Jahrzehnten bei mir hinter Glas im Schrank.

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