von Jan Markert
Die Elmshorner Volksversammlung am 27. Dezember 1863 und ihre politischen Folgen
20.000 Menschen zogen vom Bahnhof durch die heutige Königstraße zum Probstenfeld
„Es galt, den Tag der Freiheit zu feiern“, proklamierte der Rendsburger Rechtsanwalt Wilhelm Eduard Wiggers am 27. Dezember 1863 in Elmshorn, „der nach langjähriger Unterdrückung und Vergewaltigung endlich angebrochen ist.“ Wiggers rief an jenem Wintertag vor versammelter Menschenmasse auf dem heutigen Probstenfeld den Erbprinzen Friedrich von Augustenburg zum Herzog von Schleswig und Holstein aus. Am Vorabend des Deutsch-Dänischen Krieges von 1864 sollte mit diesem revolutionären Akt das Ende der Kopenhagener Herrschaft über die „up ewig ungedeelten“ Elbherzogtümer öffentlichkeitswirksam besiegelt werden.
Die länderübergreifende Krise, vor deren Hintergrund die Volksversammlung stattfand, war ein komplizierter diplomatisch-erbrechtlicher Konflikt zwischen dem Königreich Dänemark, dem Deutschen Bund und den europäischen Großmächten, allen voran Preußen und Österreich. Die Elbherzogtümer waren seit langem ein Zankapfel des dänischen und deutschen Nationalismus gewesen. Die seit 1815 währende Herrschaft der dänischen Krone über Schleswig, Holstein und das oft vergessene Lauenburg war ein Dorn im Auge der deutschen Nationalbewegung. Mit dem Versuch Kopenhagens im Winter 1863, Schleswig per Federstrich entgegen internationaler Verträge dem dänischen Staat einzuverleiben, brach ein Sturm der Entrüstung südlich der Elbe aus. Als nach dem überraschenden Tod König Friedrichs VII. von Dänemark kurz darauf der Augustenburger Erbprinz Friedrich, ein Anhänger liberalnationalen Gedankenguts, Anspruch auf die Thronfolge in den Herzogtümern erhob, jubelten ihm Stimmen in ganz Deutschland zu. Das lang schwelende Pulverfass aus modernem Nationalismus und mittelalterlichen Erbansprüchen war zur Explosion gekommen.
Inmitten dieser komplizierten Krise, die Diplomaten in ganz Europa besorgt nach Norddeutschland blicken ließ, wurde plötzlich Elmshorn zum Schauplatz der Ereignisse. Der Augustenburger Erbprinz war von der deutschen Nationalbewegung zu deren Bannträger erhoben worden – dieser befremdliche Pakt eines Vertreters monarchischer Fürstengenwalt mit denen der revolutionären Volkssouveränität musste auf die gekrönten Häupter Europas wie ein rotes Tuch wirken. Die Augustenburger-Partei versuchte daher im Dezember 1863 von ihrem Sitz in Altona aus, die Großmächte in den Elbherzogtümern vor vollendete Tatsachen zu stellen, indem sie „sofort nach dem Abmarsch der Dänen in jedem größeren Orte den Herzog als Landesherrn auszurufen“ gedachte, wie sich der Schleswiger Jurist Christoph von Tiedemann an die damaligen Planungen erinnerte. Elmshorn lag entlang der Bahnstrecke Altona-Kiel, und stellte daher gewissermaßen die erste Etappe auf dem geplanten „Siegeszug“ in die schleswig-holsteinische Residenzstadt dar.
Am 24. Dezember begann die dänische Armee ihren Rückzug aus Holstein, und bereits am 25. Dezember wurde Elmshorn durch deutsche Bundestruppen besetzt. Dort liefen die Vorbereitungen für die geplante Volksversammlung auf Hochtouren. Mit Flugblättern wurde die Bevölkerung des Umlands aufgefordert, an den Feierlichkeiten am 27. Dezember teilzunehmen. Die Masse der nach Elmshorn strömenden Menschen übertraf alle Erwartungen. Nicht nur „aus der ganzen Umgegend […], sondern aus den entferntesten Orten Holsteins, ja selbst Schleswigs, [strömte] eine Volksmasse zusammen, wie sie manche bedeutendere Stadt […] noch nicht gesehen haben mag“, berichtete ein Pressekorrespondent aus Elmshorn. Insgesamt wurde die Anzahl der Versammelten auf 20.000 geschätzt. „Tausende haben aus Mangel an Beförderungsmitteln zurückbleiben müssen“, wurde berichtet. Dieser Umstand bewegte die britische Presse zu der Bemerkung, das Ganze sei „a clumsily-managed affair” gewesen – eine ungeschickt organisierte Veranstaltung.
Ganz Elmshorn war in den schwarz-rot-goldenen Farben der deutschen Nationalbewegung geschmückt. Die Prozedur der Redner und Politiker zog vom Bahnhof durch die heutige Königstraße zum Probstenfeld, wo eine mit „deutschen Fahnen“ und „mit Tannengebüsch umgebene hohe Tribüne“ stand. Alle „ringsum belegenen Straßen waren bis auf den kleinsten Fleck von einer unabsehbaren Menge besetzt.“ Christian Rave, ein Landgerichtsrat aus Itzehoe, fragte die Masse, ob sie Friedrich VIII. als ihren Landesherrn anerkennen würden – was mit lauten „Ja!“-Rufen beantwortet wurde, die „wie Geschützdonner die Erde erdröhnen“ ließen. Der Darmstädter Rechtsanwalt Metz versicherte den Anwesenden, „daß das deutsche Volk bereit sei, mit Gut und Blut für Schleswig-Holstein einzustehen.“ „Nur das vertrocknete Gehirn eines Diplomaten“, so Metz weiter, „könne zweifeln ob die jetzige Bewegung zum Ziel kommen werde“, d.h. dass Schleswig und Holstein unter Herzog Friedrich VIII. ihre Unabhängigkeit von Dänemark und Zugehörigkeit zu Deutschland erlangen würde. Da zu den nationalrevolutionären Liedern, die ein Orchester immer wieder anstimmte, die Teilnehmer mit abgenommenen Hüten und gesenkten Köpfen mitsangen, erinnerte die Versammlung einen anwesenden britischen Journalisten an eine Beerdigungsprozession.
In mancherlei Hinsicht war das ein passender Vergleich: Denn am 27. Dezember 1863 wurden in vielerlei Hinsicht die Ansprüche des Augustenburger Erbprinzen auf Schleswig und Holstein zu Grabe getragen. Die beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen dachten nicht daran, die Proklamation Friedrichs VIII. durch die nationalrevolutionäre Volksversammlung anzuerkennen. In Berlin zielte Ministerpräsident Otto von Bismarck stattdessen darauf ab, die Elbherzogtümer Preußen einzuverleiben. Ohne die Einwilligung seines Königs, des späteren Deutschen Kaisers Wilhelms I., hätte Bismarck allerdings eine derartige Politik niemals verfolgen können. Doch der Monarch war im Winter 1863 noch kein Anhänger der Annexionsidee. Es war ein Glücksfall für den Ministerpräsidenten, dass die Nachrichten über die Volksversammlung die Berliner Zeitungen dominierten, bevor der König einen offiziellen Beschluss über die Zukunft der Elbherzogtümer formuliert hatte. Konservative Zeitungsstimmen appellierten, Preußen und Österreich sollten „dafür sorgen, daß die Sache der Herzogthümer, welche niemals so gut gestanden, wie jetzt, nicht durch das übermüthige und freventliche Treiben der revolutionairen Partei Schaden erleide.“ Mit Hilfe solcher Warnungen gelang es Bismarck, Wilhelm I. davon zu überzeugen, dass in Elmshorn ein demokratisch-revolutionärer Akt stattgefunden hatte, und die Augustenburger-Partei ein Gegner des monarchischen Herrschaftsprinzips sei. „Die Dänische Angelegenheit ist zu einer Complication gediehen“, klagte der preußische König nur vier Tage nach den Ereignissen in Elmshorn. „So viel Wahres und schönes im deutschen Sinn in dieser Frage existirt, so ist sie doch so gefährlich geworden, weil die démocratische revolutionaire Parthei sich derselben bemächtigt hat und droht Complicationen herbeizuführen, die uns noch wer weiß wohin führen können.“ Im Laufe des Deutsch-Dänischen Krieges verhärtete sich seine Ansicht, dass der Augustenburger „zu sehr in die Hände der Démocratie geraten sei.“ Nach dem Friedensschluss war der Monarch schließlich vollends überzeugt, er habe sich infolge der preußischen Kriegsanstrengungen das Recht erworben, die Herzogtümer zu annektieren. Dies geschah 1866 infolge des militärischen Sieges im Preußisch-Österreichischen Krieg. Einmal Untertanen des preußischen Königs zu werden war für viele Schleswiger und Holsteiner 1863/64 jedoch alles andere als ein erstrebenswertes Ziel gewesen. Die Mehrheit der Bevölkerung stand der Annexion daher lange ablehnend gegenüber.
Jenes „vertrocknete Gehirn eines Diplomaten“, von dem der Rechtsanwalt Metz am 27. Dezember 1863 in Elmshorn höhnend gesprochen hatte, nur ein solches „könne zweifeln ob die jetzige Bewegung zum Ziel kommen werde“, hatte sich in Form Bismarcks entgegen aller nationalrevolutionären Triumphstimmung doch gefunden. Dank der unfreiwilligen Unterstützung der Elmshorner Volksversammlung war es dem späteren ersten deutschen Reichskanzler gelungen, den Augustenburger Erbprinzen auf ein Nebengleis der Geschichte zu stellen, und seinen König davon zu überzeugen, Schleswig und Holstein zu einer preußischen Provinz zu machen.