Am liebsten mochte Helga Linser (1937-2019), den direkten Kontakt mit den Kunden, das Gestalten der Plakate und das Dekorieren der Schaufenster. Sie war 1959 mit 22 Jahren die jüngste Filialleiterin bei Kaisers Kaffeegeschäft in Norddeutschland.
Helga Linser wurde am 19. März 1937 in Braunsberg als zweite Tochter geboren. Der Vater arbeitete bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges als Steinsetzer, die Mutter bis zur Geburt der ältesten Tochter als angelernte Arbeiterin in einer Zigarrenfabrik.
Der Schulbesuch der drei Kinder war aufgrund der Ereignisse des zu Ende gehenden Krieges recht schwierig, zumal der Mutter allein die Versorgung und Erziehung der Kinder oblag und daneben auch noch Haus und Hof in Ordnung gehalten werden mussten.
Dann folgte im Februar 1945 der Befehl der Soldaten, „dass wir in einer Stunde das Haus verlassen müssten. Der Russe stände kurz vor der Stadt.“ Die Mutter und ihre Kinder Elfriede (10 Jahre), Helga (7 Jahre) und Erika (5 Jahre) landeten nach einer dreiwöchigen Flucht im bitterkalten Winter in Elmshorn.
Hier waren die einheimischen Nachbarskinder in der Schulbildung viel weiter und der inzwischen aus russischer Gefangenschaft heimgekehrte Vater lernte abends mit seinen drei Töchtern das Einmaleins. Auch fehlte es an der nötigen Ausstattung von Schulutensilien, wie Schreibheften, Lesebüchern und anderem Material. Anfangs dienten Zeitungs-Randstreifen als Schreibpapierersatz.
Alle drei Kinder erhielten jedoch den Hauptschulabschluss und eine Lehrstelle. Für die Familie hatte das Erlernen eines Berufs oberste Priorität.
Helga Linser suchte sich mit viel Engagement eine Lehrstelle in ihrem Wunschberuf Einzelhandelskaufmann. Schon als kleines Mädchen spielte sie gerne Kaufmann und baute einen kleinen „Laden“ mit einem Warenangebot auf. Das Verkaufen brachte ihr sehr viel Spaß. „Ein Arbeitsplatz im Büro an einem Schreibtisch, das wäre nichts für mich gewesen. Ein alternativer Wunschberuf hätte vielleicht Kindergärtnerin sein können“ – aber diese Äußerung kommt ihr erst nach längerem Nachdenken über die Lippen.
Insgesamt hat sich das Berufsfeld einer Einzelhandelskauffrau heute komplett gewandelt, ebenso wie das Warenangebot, die Arbeits- und die Ausbildungsbedingungen.
Helga Linser begann ihre Lehre 1952 mit 15 Jahren in einem Lebensmittelgeschäft in der Elmshorner Königstraße Nummer 50, einer Filiale von Kaisers Kaffeegeschäft. Eine Selbstbedienung gab es noch nicht. „Wir hatten die allermeisten Preise im Kopf und mussten uns viel merken. Heute sind ja oft nur noch ungelernte Kräfte im Supermarkt tätig, aber damals wäre das gar nicht möglich gewesen.“
Der Ladentresen fungierte auch als Nachrichtenzentrale und es kam zu vielen Gesprächen mit den verschiedenen Kundinnen und Kunden. Helga Linser war in ihrem Element, sie gab zum Beispiel gerne Tipps zum Kochen und Backen, obwohl sie dem Backfischalter noch nicht entwachsen war. „Der Kontakt zum Kunden war wesentlich intensiver, es war alles persönlicher als heute.“
Die Arbeit in einem Lebensmittelgeschäft Anfang der 1950er Jahre war vor allem geprägt vom Abfüllen der losen Waren: „Zucker, Mehl, Erbsen etc. wurde in großen Säcken angeliefert. Wir Lehrlinge mussten diese Güter in Pfund- und Halbpfundtüten abwiegen und verpacken. Für die Faltung der Tüten gab es genaue Anweisungen.
Wir mussten auch viel putzen, den Bürgersteig reinigen – es fuhren noch Pferdegespanne durch die ‚Kö‘, besonders vertrauenswürdige Lehrlinge ‚durften‘ sogar die Privatwohnung der Filialleiterin im oberen Stockwerk putzen. Es galt noch der Spruch: ‚Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘.“
Trotz allem resümiert Helga Linser: „Es hat aber Spaß und Freude gemacht“.
Nach erfolgreicher Abschlussprüfung wechselte sie in eine Kaisers Filiale nach Hamburg. Dort war sie bald Urlaubsvertretung der Filialleiterin und wurde auch in anderen norddeutschen Filialen als Aushilfe eingesetzt, wenn deren Leiterinnen ausfielen.
1959 kam Helga Linser dann als Norddeutschlands jüngste Filialleiterin wieder zurück nach Elmshorn.
1960 heiratete sie und im September 1961 endete die Berufskarriere, als sie in den sechswöchigen Mutterschutz mit dem ersten Kind ging. Sie kündigte ihre gute Stelle als Filialleiterin. „Das war früher einfach so, man blieb zuhause.“ Im Rückblick äußert ihr Ehemann, „dass es sicherlich schöner für meine Frau gewesen wäre, noch andere Betätigungsfelder außer der Versorgung von Kindern, Ehemann, Küche und Garten zu haben und mehr in der Gesellschaft integriert zu sein. Damals aber dachten wir alle so: Kinder werden am besten im häuslichen Umfeld erzogen. Und da wir uns das leisten konnten, dass sie zuhause blieb und die Kinder betreute – ja, da haben wir das eben so gemacht.“
Zu der Zeit gab es aber auch nicht in dem Maße die heute üblichen Einrichtungen des Staates zur Unterstützung von jungen Familien. Die Familie war zu mehr eigenverantwortlichem Handeln gezwungen.
Auf die Frage, ob sie sich damals ihren Mann als Hausmann vorstellen könne, antwortet die Ehefrau heute mit einem vehementen „Nein!“. Eine Teilung der Kinderbetreuung kam nie in Frage, zum einen hatte der Ehemann ein höheres Einkommen als sie als Filialleiterin und zum anderen galt einfach die Devise „Frauen an den Herd“. „Da mein Mann aufgrund seines gewählten Berufes häufig und teils über längere Zeiträume auf Reisen war, war ich bereits frühzeitig auf die Kindererziehung fixiert. Gleichzeitig sah ich meine Aufgabe darin, die Familie zu versorgen und fand Freude und Erfüllung daran, in Haus und Garten zu wirken. Neben der beruflichen Tätigkeit meines Mannes war der Schwerpunkt seines Wirkens – da er handwerklich sehr geschickt war und ist – die Vollendung unseres Hauses, die späteren Reparaturen aller Art, Anfertigen von Möbeln und Hilfseinrichtungen. Weniger fand er Freude an generellen Arbeiten in der Küche, am Versorgen und Windeln unserer Kleinen“.