Das Torhaus im Wandel der Zeit
Ursprünglich war es nur ein Verbindungsstück, das zwei Fabriken miteinander vereinen sollte. Sein Bauherr ahnte wohl kaum, dass das Gebäude über seinen damaligen Zweck hinaus einmal für viele Elmshorner*innen von großer Bedeutung sein würde: das Torhaus.
Johann Hinrich Strecker war Schuhmacher aus Altona, erlernte in Elmshorn das Gerberhandwerk und gründete 1856 in der Königstraße 51 eine Lederfabrik. In den 1880er Jahren verlegte er seinen Standort dann aber an das Südufer der Krückau, etwas zurückgesetzt von der eigentlichen Königstraße. Auf dem Gelände stand bis 1900 die alte Gasanstalt, die in der Westerstraße einen neuen Standort mit festerem Untergrund finden sollte. Die alten Gebäude der Gasanstalt grenzten an die Lederfabrik von Johann Hinrich Strecker und wurden vermutlich auch teilweise von ihm genutzt. Lukrativ war vor allem der Ankauf von handwerklich von Schuhmachern aus Elmshorn und Barmstedt hergestellten Militärstiefeln, die er während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 mit hohen Gewinnen an die Armee weiterverkaufte. 1912 starb Johann Hinrich Strecker.
Diedrich Petersen gehörte die Lederfabrik in der Königstraße 49, die östlich direkt an das Strecker-Gelände angrenzte. Sie wurde von den Nachfolgern von Johann Hinrich Strecker, Heinrich und Friedrich Strecker, 1914 übernommen.
Die Lederfabriken der Königstraße 49 und 51 von oben – 1912 entstand ein ungewöhnliches Foto aus einem Luftschiff
von Peter Danker-Carstensen
Bald nachdem der Mensch in der Lage war, sich mittels unterschiedlicher Fluggeräte in die Luft zu erheben, wurde diese Möglichkeit genutzt, die Welt von oben zu fotografieren. Die „Flugbild“-Fotografie war geboren.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich in Deutschland eine zivile Passagier-Luftschifffahrt mit Hilfe von Zeppelinen. Die wagemutigen Passagiere, die Fahrten – nicht Flüge – mit Zeppelinen unternahmen, gehörten im wilhelminischen Deutschland meist dem Bürgertum an, da Zeppelinfahrten ein teures Vergnügen waren. Obwohl Luftschiffe – im Gegensatz zu Flugzeugen – stark von den aktuell vorherrschenden meteorologischen Bedingungen abhängig waren, waren die Luftschiffer natürlich bemüht, den Wünschen ihrer zahlenden Passagiere entgegen zu kommen, wenn es galt, bestimmte Orte zu überfliegen.
Als am 5. Juli 1912 das Luftschiff „Victoria Luise“ der „Deutschen Luftschiffahrts AG“ (DELAG) morgens gegen viertel vor sechs auf seinem Wege von Hamburg nach Westerland Elmshorn überflog, waren auch Bürger der Krückaustadt an Bord. Es handelte sich dabei um den bekannten Elmshorner Rechtsanwalt Justizrat Theodor Lamp aus der Mühlenstraße sowie um den Lederfabrikanten Friedrich Strecker und dessen Tochter. Strecker war zusammen mit seinem Bruder Heinrich Inhaber der 1856 von seinem Vater Johann Hinrich Strecker gegründeten „Lederfabrik J.H. Strecker Söhne“ mit der Firmenadresse Königstraße 51.
Streckers Tochter war die Fotografin des ebenso frühen wie ungewöhnlichen Fotos der Königstraße. Das Foto zeigt fast aus der Vertikalen den südwestlichen Abschnitt der Königstraße von Drückhammers Gang am linken unteren Bildrand bis zum Streckers Gang im rechten oberen Teil des Bildes. (Die unscharfe schwarze Linie rechts oben ist ein Teil der Zeppelin-Kanzel). Die Krückau verläuft auf dem Foto oberhalb der Königstraße und wird von der Brücke im Laufe des Weges von der Königstraße zur „Lederfabrik Strecker“ Hausnummer 51 gequert. Links des Weges bzw. der Brücke liegt die „Lederfabrik Diedrich Petersen“ Hausnummer 49. Beide Gebäudekomplexe wurden später durch das noch heute existierende „Torhaus“ miteinander verbunden, nachdem Strecker 1914 die Gerberei von Petersen übernommen hatte. In der Bildmitte ist das heute noch existierende, seit Jahren leerstehende „Doppelhaus“ Königstraße 39-41 mit seinen markanten Oberlichtern zu erkennen.
Am linken Bildrand liegt das stattliche Gebäude Königstraße 35, das zur Zeit der Aufnahme „Allers Gasthof“ mit seinem großen, bis an die Au reichenden Saalgebäude beherbergte. Die untere Bildhälfte wird von der nördlichen Straßenseite eingenommen. Sie wird durch die Einmündung der Peterstraße in die Königstraße geteilt. Das langgestreckte Dach gehört zum „Mühlenbetrieb Diedrich Mohr“, Königstraße 40, im Elmshorner Volksmund nur „Mahncke-Mohr“ genannt. Zwischen dem Dach und der Peterstraße ist der Schornstein des Mohr’schen Betriebes zu erkennen.
Das Torhaus wurde 1918 als Verbindungsgebäude zwischen den beiden Fabrikteilen gebaut. Der Weg von der Königstraße durch das Torhaus heißt bis heute „Streckers Gang“. Dieser Fußgängerweg führte früher bis zum Osterfeld auf einem ca. 200 Meter langen Holzsteg über den morastigen Boden der Krückau-Niederung. Dieser „Große Steg“ wurde 1865 abgerissen.
In der Zeit des Ersten Weltkrieges florierte die Firma „J.H. Strecker Söhne“, die durch die Übernahme der Lederproduktion von Petersen nun 120 Mitarbeitende beschäftigte und zu einer der größten Lederfabriken Elmshorns zählte. Durch die Spezialisierung der Fabrik auf Lederhelme aus schwerem Bodenleder für das Militär kam es zu einem massiven Einbruch der Einnahmen nach Kriegsende. In der Folge konnte die Firma „J.H. Strecker Söhne“ um 1920 lediglich weniger als die Hälfte der Arbeiter beschäftigen. Dennoch wurde auf dem Platz der alten Gasanstalt, dem jetzigen Buttermarkt, noch ein großes Lagergebäude für Rohhäute gebaut. Zur Nutzung des Gebäudes durch die Lederfabrik kam es allerdings nicht mehr. Mitte der 1920er Jahre meldete die Firma Konkurs an, die Lagerhalle wurde von der Stadt gekauft und seither als Markthalle genutzt. Die Nachbargebäude des Torhauses wurden nach und nach abgerissen und das Torhaus, das sich seitlich an die Fabrikgebäude angelehnt hatte, musste mit Stützpfeilern verstärkt werden.
Wie damals üblich, wohnte auch hier die Fabrikantenfamilie in unmittelbarer Nähe zur Produktionsstätte. Auch das Privathaus trug die Hausnummer Königstraße 51. Das Wohngebäude der Streckers verfiel zusehends und wurde 1963 schließlich abgerissen.
Wie auch die Lagerhalle auf dem Buttermarkt übernahm die Stadt auch das Torhaus mit dem restlichen Fabrikgebäude und richtete dort für Obdachlose 54 „Notquartiere“ ein. Zu der Zeit wurde das Fabrikgebäude im Volksmund „Burg Schreckenstein“ genannt.
Nachdem im März 1933 in der Presse von der Errichtung des ersten Konzentrationslagers in Dachau berichtet worden war, wurden die Lesenden wenige Tage später mit folgender makabrer Notiz in den „Elmshorner Nachrichten“ in den April geschickt: „Ein Konzentrationslager in Elmshorn” Wie wir hören, soll die frühere Strecker’sche Fabrik, jetzt Burg ‚Schreckenstein‘ genannt, als KZ für politische Gefangene eingerichtet werden. Die Lagerinsassen sollen damit beschäftigt werden, den Rost von der Eisernen Front abzukratzen.“
1923 stehen unter der Adresse Königstraße 51 neun Namen im Elmshorner Adressbuch, darunter auch Gerson Winterstein und seine Kinder Esther Marga und Benno Bengalo Winterstein, die vermutlich im umgebauten Fabrikgebäude wohnten. Gerson Winterstein war Sinto, seine Frau Marie Charlotte, die sich 1939 von ihm trennte, galt als Arierin. Die Kinder Marga (* 1931) und Benno (*1932) lebten spätestens ab 1943 im Kinderheim am Sandberg 102. Dort wurden sie als „Zigeunermischlinge“ vom Heimleiter an die Nazis ausgeliefert und 1944 in das KZ Auschwitz-Birkenau gebracht. Nur Marga überlebte das KZ, ihr Bruder starb mit großer Wahrscheinlichkeit in Auschwitz. Der Vater Gerson Winterstein wurde wiederholt von den Nazis verhaftet, sein Schicksal nach der Scheidung von seiner Frau 1940 ist unbekannt. Für die Kinder und den Vater Winterstein ist heute je ein Stolperstein an der Stelle verlegt, an der das Haus Nr. 51 gestanden hat.
Ein weiterer Stolperstein zeigt die Lebensdaten von Carl Wulff. Er wohnte mit seiner Frau und seiner Tochter ebenfalls in der Königstraße 51 und arbeitete als Maurer. Von den Nazis verfolgt wurde er, weil er Gemeindemitglied der „Ernsten Bibelforscher“, also der Zeugen Jehovas, war. Die Zeugen Jehovas lehnten die nationalsozialistische Ideologie als unvereinbar mit ihren Glaubensüberzeugungen ab. Carl Wulff wurde 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er ein Dreivierteljahr später starb.
Im März 1939 zog die Stadtbücherei in die Räumlichkeiten des Torhauses ein. Nachdem die Bücherei 1977 an ihren jetzigen Standort in der Königstraße 58 umgezogen war, sollte das neben der Markthalle letzte verbliebene Strecker-Gebäude abgerissen werden. In der Bevölkerung gab es geteilte Meinungen zum Torhaus, für die einen war das Lederfabrik-Relikt ein „Schandfleck“, für andere „ein städtebauliches Juwel“. Nach einer Umfrage „Pro und Kontra Torhaus“ in den Elmshorner Nachrichten vom 30. April 1977 wurde deutlich, dass es in der Bevölkerung erheblichen Widerstand gegen die Abrisspläne gab. Großes Engagement für den Erhalt des Hauses zeigte die Elmshorner FDP-Kulturpolitikerin Lena Sachse. Sie argumentierte:
„Dieser Blick auf den Bogen an der Krückau muss für die Bürger erhalten bleiben. In Elmshorn wird viel zu oft und zu schnell abgerissen und modernisiert. Da müssen wir den letzten Rest Vergangenheit schon kräftig hegen und pflegen, um zeigen zu können, dass auch wir eine Geschichte haben.“
Auch die Spendenbereitschaft für den Erhalt des Hauses war groß. Fast 20.000 Mark allein an privaten Spenden kamen zusammen, darüber hinaus erhebliche Summen von der Sparkasse und den Stadtwerken. Insgesamt wurde das Sanierungsprojekt allerdings deutlich teurer als geplant, da die Außenwände instabil waren und bei den Arbeiten unter dem Gebäude noch ein verschlickter Keller gefunden wurde, so dass insgesamt etwa 300.000 Mark in die Sanierung gesteckt werden mussten.
Am 1. Mai 1980 wurde das Torhaus mit einer Ausstellung des Künstlers Horst Janssen feierlich eröffnet.
Heute sind im Torhaus unten die „Tourismus-Information“ und der „Verkehrs- und Bürgerverein“ ansässig, in den oberen Räumen haben der „Kunstverein Elmshorn“ und auch das „Freiwilligenforum“ ihre Domizile.
Auf der Rückseite der Königstraße finden sich im Skulpturengarten der Stadt zwölf Skulpturen von norddeutschen Künstlern. Hinter den vier Stolpersteinen am Standort Königstraße 51 steht der „Mühlsteinbrunnen“ von Manfred Sihle-Wissel, den er 1975 aus Granit und alten Mühlsteinen schuf. Der Brunnen sprudelte lange am Ende der Königstraße am Alten Markt und wurde nach dem Umbau der Königstraße zunächst eingelagert, bis er seit einigen Jahren seinen neuen Platz beim Torhaus gefunden hat.
2018 ist das Torhaus, das heute die Adresse Probstendamm 7 hat, 100 Jahre alt geworden.