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Die wechselhafte Geschichte eines kleinen Hauses

Ältere Elmshorner*innen erinnern sich an die ausgesuchten Spezialitäten, die Annemarie Lenz bis 1969 in ihrem Feinkostladen in der Königstraße 37 anbot. Doch mit dem Haus ist in der Zeit des Nationalsozialismus auch ein dunkles Kapitel verbunden.

Zum Textil- und Zigarrengeschäft

Spätestens seit Anfang der 1890er Jahre war in dem Haus eine Goldschmiedewerkstatt untergebracht, in der Ferdinand Reusch „Gold- und Silberwaaren“ herstellte. Als Reusch um 1900 die Werkstatt vergrößerte und dafür in die Gärtnerstraße 52 verlegte, zogen in die nun aufgeteilten Geschäftsräume links und rechts der gemeinsamen Treppe das Zigarrengeschäft von Hermann Gärtner sowie Bertha und Margaretha Lienau mit ihrer vormals in der Königstraße 9 betriebenen „Weißwaarenhandlung“ ein. Hier gab es weiße Wäsche wie Bett- und Handtücher, Tischdecken oder Gardinen, aber auch unverarbeitete Stoffe und Kurzwaren. Weißwaren gab es auch bei den noch vor 1900 aufkommenden Kaufhäusern wie „Homann & Heyck“. Vermutlich deshalb haben sich Lienaus im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf die Stickerei spezialisiert. Mit dem Stickereigeschäft zogen sie in das nebengelegene Gebäude, Hausnummer 39, um.

Seit mehreren Jahren findet sich in der Königstraße 37 eine Filiale des Modeunternehmens „Bonita“. Das kleine Haus hat eine wechselvolle Geschichte. Foto: Teja Sauer 2020, Sammlung IME

Boykottaktion

Nach dem Auszug der Weißwaren zog Irma Rosenberg mit ihrem Handarbeitsladen, den sie im Januar 1923 zunächst in der Peterstraße 28 eröffnet hatte, ein.

Der Handarbeitsladen war für viele Elmshornerinnen die Anlaufstelle in Sachen Handarbeiten. Irma Rosenberg, geb. Schmidt, wurde 1888 in Kiel geboren und kam mit Anfang 30 nach Elmshorn. Hier lernte sie den verheirateten Georg Rosenberg kennen, der 1886 in Elmshorn in der Kirchenstraße 4 geboren wurde. Seine Eltern gehörten der Israelitischen Gemeinde an. Das Wohnhaus lag im Zentrum von Elmshorn, einen Steinwurf von der St. Nikolai-Kirche entfernt. Der Vater Alexander Rosenberg hatte 1883 am Markt in Elmshorn ein Ladengeschäft für Papierwaren eröffnet. Georg arbeitete als Kaufmann im Geschäft seines Vaters mit und heiratete 1909 Gerda Mendel, die Tochter einer sehr angesehenen jüdischen Elmshorner Familie.

Die Ehe von Georg und Gerda Rosenberg wurde 1920 geschieden. Georg wurde schuldig gesprochen, da das Gericht ein Verhältnis mit seiner späteren zweiten Frau, Irma Schmidt, als Scheidungsgrund wertete. Die Tatsache der Scheidung und das Verhältnis ihres Sohnes mit einer Nichtjüdin dürften ursächlich für den Selbstmord von Georgs Mutter kurze Zeit später gewesen sein.

Georg und Irma heirateten am 8. November 1921. Für beide begann danach eine erfolgreiche Zeit, die jedoch nicht lange dauerte. Sie vergrößerten das Geschäft des Vaters, indem sie u.a. das Gebäude Kirchenstraße 10 hinzu kauften. Am 1. September 1923 beging die Firma Rosenberg ihr 40-jähriges Jubiläum. In der „Elmshorner Zeitung“ erschien zu dem Datum ein größerer Artikel, in dem die Großzügigkeit und das Mäzenatentum der Firma für Sport und Kultur der Stadt Elmshorn herausgestrichen wurden. Die Zeitung schrieb von „praktischer Vaterlandsliebe“.

Schon wenig später wendete sich jedoch das Blatt. Georg Rosenbergs Scheidung, der Beginn der Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre und einige Steuervergehen führten schließlich zum Konkurs des Papiergroßhandels. Georg Rosenberg wurde zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe wegen Konkursvergehens verurteilt, die jedoch in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Das Grundstück Kirchenstraße 4 wurde im April 1926 zwangsversteigert. Weitere Immobilien musste er verkaufen, andere hatte er schon vor dem Konkurs an seine erste Ehefrau und die beiden Kinder überschrieben.

Die Eheleute Rosenberg zogen nach dem Verlust des Wohnhauses nur einige 100 Meter weiter in eine Mietswohnung in der Peterstraße 28. Irma Rosenberg betrieb dort wie auch in der Haupteinkaufsstraße, der Königstraße 37, ein Handarbeitsgeschäft.

Georg Rosenberg half im Geschäft seiner Frau mit und arbeitete außerdem u.a. als Handelsvertreter für eine Elmshorner Margarinefabrik. Für das Ehepaar wurde es nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 wirtschaftlich sehr viel schwieriger. Bei der großen Boykottaktion am 1. April 1933 gegen jüdische Geschäfte wurde Irma Rosenbergs Laden in der Königstraße von SA-Posten belagert und als jüdisches Geschäft gebrandmarkt. Erst die „freiwillige“ Schließung ließ den SA-Mob abziehen. In der Folgezeit gingen die Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte weiter. Irma Rosenberg sah sich Ende 1938 gezwungen, ihren Laden zu schließen und zog mit ihrem Sortiment aus. Von 1938 bis 1941 arbeitete sie als Abteilungsleiterin in dem Textilgeschäft „Ramelow“ in der Königstraße.

Die Ehe geriet in die Krise. Ob es der nationalsozialistische Verfolgungsdruck war oder die Tatsache, dass im Juli 1934 Karl Storz in das Haus Peterstraße 28 einzog, wissen wir nicht, jedenfalls trennte sich Irma Rosenberg von ihrem Mann. Im November 1938 gehörte Georg Rosenberg zu den Verhafteten der Pogromnacht. Er wurde in das KZ Sachsenhausen verbracht und am 23. Dezember aus der Haft entlassen. Seine Ehefrau Irma ließ ihn bei seiner Rückkehr am 24. Dezember nach Elmshorn nicht mehr in die bis dahin gemeinsame Wohnung. Die Entlassung war üblicherweise mit der Auflage verbunden, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das Reichsgebiet zu verlassen. Für Auswanderungspläne Georg Rosenbergs gibt es keine Anhaltspunkte.

Als nächstes Lebenszeichen findet sich im Juli 1939 in den „Elmshorner Nachrichten“ der folgende Artikel: „Festgenommen wurde am Montag, dem 24. Juli, der frühere Kaufmann, der Jude Georg Rosenberg. Er lebte in der letzten Zeit von Unterstützung der jüdischen Gemeinschaftshilfe und versuchte, bei Behörden Hilfe in seiner angeblichen ‚Notlage‘ zu finden. Es wurden bei seiner Festnahme 452,16 RM bei ihm vorgefunden. Diese Summe hatte Rosenberg nach jüdisch-devisenschieberischer Weise in dem Futter seiner rechten Hosenklappe versteckt. Die Gestapo wird sich jetzt wieder einmal mit ihm beschäftigen.“

Nachdem sie acht Jahre getrennt gelebt hatten, reichte Irma Rosenberg gegen den Willen ihres Ehemannes die Scheidung ein. Warum sie diesen Zeitpunkt wählte, geht aus dem Scheidungsurteil nicht hervor. Bis dahin hatte die Verbindung für den jüdischen Ehemann, einen gewissen Schutz vor einer „Überführung nach dem Osten in ein Judenviertel“, wie es in der Urteilsbegründung hieß, geboten. Am 5. Juni 1942 wurde die Ehe von Irma und Georg Rosenberg wegen „unheilbarer Zerrüttung“ geschieden.

Georg Rosenberg wurde am 6. Oktober 1942 durch die jüdische Gemeinde in der Beneckestraße 2 in Hamburg untergebracht, ihren eigenen Gemeinderäumen, die nun als „Judenhaus“ dienten. Er wurde zum Transport „nach dem Osten“ aufgerufen. Der Transport verließ Hamburg am 12. Februar 1943 und führte über Berlin nach Auschwitz. Ein Datum von Georg Rosenbergs Ermordung in Auschwitz konnte nicht ermittelt werden. In der Kirchenstraße 4 erinnert ein Stolperstein an das Schicksal Georg Rosenbergs als Verfolgtem des Nazi-Regimes.

Stolperstein für Georg Rosenberg in der Kirchenstraße 4, Foto: Teja Sauer 2020, Sammlung IME

Irma Rosenberg heiratete später Karl Storz. Am 16. November 1951 gelang der selbstbewussten Frau die Wiedereröffnung ihres Handarbeitsgeschäftes – jedoch ein Haus weiter in der Hausnummer 39 – hier betrieb ihr Sohn bereits ein Ladengeschäft. Sie führte ihr Geschäft sehr engagiert, stets die erste und letzte im Laden. Irma Storz verfügte über große Fachkenntnisse in Bezug auf sämtliche Handarbeitstechniken vom Spitzenklöppeln über Hardanger bis zur Schiffchenarbeit zur feinsten Umrahmung von Taschentüchern. Ihre Kund*innen schätzten sie für ihr Engagement und ihre guten Tipps. Das Handarbeitsgeschäft war sehr bekannt und der Laden in der Königstraße 39 bestand bis in die 1970er Jahre. Nach dem 50-jährigen Geschäftsjubiläum übernahm ihr Sohn Hermann Schmidt den Verkauf, sie blieb aber noch bis zu ihrem 90. Lebensjahr die Seele des Geschäfts.

Das Feinkostgeschäft

Zurück zur Königstraße 37: Hier zog in der Zeit des Nationalsozialismus neben der Tabak- und Zigarrenhandlung eine Feinkosthandlung ein. Der Inhaber, Kaufmann Walther Kroll, Jahrgang 1894, betrieb seinerzeit unter dem Namen „Gebrüder Kroll“ in der Großen Reichenstraße 11/13 Hamburg einen „Fettwaren-Großhandel“ und eine Fettwarenhandlung in der Elmshorner Königstraße 43.

Lebensmittel-Haus Kroll“ in der linken Geschäftsseiteauf der anderen ein Friseurgeschäft, 1948. Foto: StA Elmshorn
Feinkost Lenz, 1967. Foto: E.-G. Scholz

1948 stellte Walther Kroll Annemarie Lenz ein und im benachbarten rechten Geschäft war ein Friseur zu finden. Im November 1959 übernahm Annemarie Lenz das Feinkostgeschäft, war sie doch inzwischen zu Krolls „erste[r] Kraft“ aufgestiegen. Beide Geschäfte mussten nach über 20 Jahren 1969 ausziehen. Annemarie Lenz hatte nun keine berufliche Perspektive mehr, da sie „einen neuen Laden in ähnlich günstiger Lage […] nicht finden“ konnte. Über den Grund des Auszugs informiert ein Bericht in den „Elmshorner Nachrichten“: „Das Haus gehört einer Erbengemeinschaft, und die konnte es günstiger vermieten. Verständlich, daß man den höheren Gewinn vorzog.“ Sehr deutlich kritisierte der Reporter diese Entscheidung und verwies außerdem auf die Folgen, die der Auszug habe: „Aber die Kunden der beiden Geschäfte sind traurig. Die alteingesessenen Geschäfte gehörten zum Bild der Königstraße.“ Doch nicht nur bei den Kund*innen, auch bei den Geschäftsbetreiber*innen hatte Annemarie Lenz einen bleibenden Eindruck hinterlassen. So hatte Annemarie Lenz zur Sturmflut 1967 die Helfer*innen in der Königstraße mit Esspaketen versorgt.

Schneidet den letzten Schinken an: Annemarie Lenz, seit 1948 Mitarbeiterin des Vorgängers Kroll, führte den Laden bis zur Schließung am 12. November 1969. Foto: E.-G. Scholz
Ein Blick, wie man ihn heute nur noch aus den Metzgereien kennt. Annemarie Lenz und eine ihrer letzten Kund*innen am Tag der Schließung, 1969. Foto: E.-G. Scholz
Im Schaufenster warb Annemarie Lenz bis kurz vor der Schließung mit ihren Feinkostwaren wie Schinken und Wein, 1969. Foto: E.-G. Scholz
Ein „Spion“ war an vielen Häusern zu finden, auch in der Königstraße 37. Über ihn konnten die Bewohner*innen während des Kaffeetrinkens von der Stube aus Passant*innen in der Königstraße „diskret“ beobachten, 1967. Foto: E.-G. Scholz

Seifenhaus Jonkanski

Nach vollständiger Modernisierung des Ladens „in Rekordzeit“ zog schließlich am 23. April 1970 das Seifenhaus Jonkanski ein. Um die Verkaufsfläche zu vergrößern, wurden die beiden Läden zusammengelegt. Hatte Jonkanski in den 1950er Jahren in der Königstraße 16 einen Laden betrieben, in dem die Mitarbeiter*innen von der Ladentheke aus bedienten, verfolgte man hier das „amerikanische Konzept“ der Selbstbedienung.

Im Sortiment hatte Jonkanski Seifen, Waschmittel und Parfum sowie „Artikel des täglichen Bedarfs“. Diese könne – so berichteten die „Elmshorner Nachrichten“ am Tag der Eröffnung – „der Kunde in Ruhe betrachten und auswählen“.

Seifen-Jonkanski am Tag der Neueröffnung am 23. April 1970. Foto: E.-G. Scholz

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