Einzelhandel gegen Kaufhaus
Schon lange lebt Silvia Fechner (geborene Thormählen) nicht mehr in Elmshorn, doch als sie für das Projekt „773 Schritte durch die Zeit – Königstraße Elmshorn“ über ihre Kindheit und Jugend spricht, werden Erinnerungen lebendig. Erinnerungen an das Leben in der Königstraße, die Arbeit im elterlichen Stoffgeschäft und an eine Zeit vor dem Aufkommen von Kaufhäusern in der Innenstadt.
Frau Fechners Geschichte beginnt im Jahr 1953. In dem Jahr, in dem ihr Vater Gerd Thormählen aus der Kriegsgefangenschaft zurück in seine Heimatstadt kehrte und das Textil- und Bekleidungsgeschäft seiner Eltern in der Königstraße 45 übernahm. Während des Kriegsdienstes der Söhne führte Mutter Thormählen die Geschäfte. Kurz vor ihrem Tod erfuhr sie noch von der Rückkehr ihres Ältesten, verstarb aber, bevor er – als einer der letzten Elmshorner – aus Russland zurückkehrte. Über die Zeit vor und während des Krieges sprach der Vater auch später nie.
Kurz nach seiner Rückkehr lernte Gerd Thormählen Rose-Marie Rohwedder kennen. Die beiden heirateten und bekamen zwei Töchter: Silvia und Cornelia. Gemeinsam mit dem Kindermädchen Brigitte lebte die Familie in den oberen Stockwerken des Hauses. Das Geschäft befand sich im Erdgeschoss.
Der Textilkaufmann Heinrich Thormählen gründete das Manufakturwarengeschäft bereits im Dezember 1874. Das Fachgeschäft befand sich bis zur Schließung nach 105 Jahren an seinem Standort in der Königstraße 45 und kleidete Generationen von Elmshorner*innen ein. 1919 übernahm der Sohn Albert Thormählen das Geschäft. In den 1930iger Jahren baute er eine gut sortierte Kleiderstoffabteilung neben dem Sortiment von Konfektionskleidung für Damen und Kinder auf. Im Jahr des 100-Jährigen Geschäftsjubiläums waren mehr als 20.000 Meter Kleiderstoff vorrätig.
Nachdem bereits sein Onkel Claus Thormählen 1909 mit der Königl. Preußischen Lotterie begonnen hatte, bekam Albert Thormählen 1936 die Lizenz für eine Lottoannahmestelle, die heute eigenständig betrieben wird.
„Das war der Grundstock für alles, denn da kam immer Geld rein. […] Immer freitags wurden die Lottoscheine gezählt. Mein Vater fuhr dann mit dem Auto nach Kiel, um die Abrechnung abzugeben“, erinnert sich Silvia Fechner.
Die Räumlichkeiten des Geschäfts wurden mit den Jahren einige Male umgebaut. Zeitweise mieteten die Thormählens Verkaufsräume des Nachbarhauses an. Als sie ihr Warenangebot später verkleinerten, gaben sie auch die entsprechende Ladenfläche wieder auf.
Auf dem Laufsteg
Schon in jungen Jahren verbrachten die beiden Töchter Silvia und Cornelia häufig Zeit bei ihren Eltern und den Angestellten im Geschäft. Sie halfen bei der Inventur, indem sie die Stoffe ausmaßen und in der Kindermodeabteilung die Kleidungsstücke zählten.
Auch auf Modenschauen liefen die beiden Mädchen über den Laufsteg. Außerdem begleitete Silvia Fechner ihre Eltern bereits als Kind zu Modemessen. „Auf der Kindermesse in Düsseldorf habe ich immer geguckt, was mir gefällt. Und meine Mutter hat sich auch schon danach gerichtet.“ Später, als die Mädchen älter wurden, stellte die Familie Thormählen den Verkauf der Kindermode ein.
Auch wenn sie nicht gerade aushalfen, verbrachten die Schwestern viel Zeit in dem Geschäft der Eltern. Frau Fechner lacht, als sie sich an die Ostereiersuche zwischen den Stoffballen erinnert:
„Ostern haben meine Eltern immer im Geschäft die Ostereier versteckt, weil das ja so schön ging, in den bunten Stoffen die bunten Eier zu verstecken. Das war sehr aufregend, da zu suchen. Und dann haben wir ja nie alle gefunden und das fanden dann die Angestellten sehr schön, wenn die nach Ostern noch Ostereier im Geschäft gefunden haben. Wir waren viel da unten im Laden. Haben da auch Hausaufgaben gemacht.“
Ein Geschäft für Generationen
Bevor die Königstraße 1972 zur Fußgängerzone wurde, schloss das Geschäft der Familie Thormählen über Mittag. Erst als Silvia Fechner nach dem Abitur ihre Ausbildung im elterlichen Betrieb abschloss, kam der Druck auf, die Geschäftsräume auch über die Mittagszeit geöffnet zu lassen.
Als Stoff- und Bekleidungsgeschäft war der Name Thormählen stets verbunden mit einer umfangreichen Beratung. Mit dem Aufkommen von Kaufhäusern wandelte sich auch das Konsumverhalten der Kund*innen. Während die meist weiblichen Kundinnen bis dahin einmal jährlich das Geschäft aufsuchten, um sich und ihre Kinder umfangreich beraten zu lassen und mit neuer Kleidung einzudecken, setzten moderne Modegeschäfte auf Selbstbedienung und günstigere Preise. Anders als der benachbarte Konkurrent „Ramelow“ stellte die Familie Thormählen erst spät Teile des Sortiments auf Selbstbedienung um.
„Das war eine Belastung für meinen Vater, das habe ich schon gemerkt. Da war er sehr unruhig und hat uns dann immer zum Spionieren geschickt, was es da gibt und was das alles kostet.“
Mitte der 1970er Jahre lernte Silvia ihren späteren Mann Wolfgang Fechner kennen. Als sie 1976 heirateten, trug sie ein aus Stoffen des Geschäfts geschneidertes Brautkleid.
Sich zu überlegen, welche Stoffe zu welchen Schnittmustern passten, Schnitte abändern und bei den Vertretern Kleidung zu bestellen, die einer bestimmten Kundin besonders gut gefallen könnte – das war es, was Silvia Fechner an ihrer Arbeit im Familienbetrieb den größten Spaß brachte.
Mehrgenerationenhaushalt
Nach der Hochzeit lebte das Paar gemeinsam mit den Eltern in der Königstraße. Dafür zogen Gerd und Rose-Marie Thormählen in das erste Obergeschoss, in dem sich bis zu jenem Zeitpunkt die Gemeinschaftsräume der Familie befanden. Silvia und Wolfgang Fechner bewohnten im zweiten Stock die ehemaligen Schlafräume. Damit beide Paare Platz in dem Haus fanden, renovierten die beiden Männer gemeinsam die Wohnungen.
Das junge Paar beschloss, das Geschäft der Eltern zu übernehmen. Während Wolfgang Fechner ein Studium als Textilingenieur absolvierte, plante Silvia Fechner eine weitere Ausbildung als Schneiderin zu beginnen, um zusätzlich zum Stoffverkauf ein Nähcafé in den Ladenräumen einzurichten. Aus persönlichen Gründen konnten diese innovativen Ideen nicht realisiert werden. 1979 – ein Jahr vor dem Tod Gerd Thormählens – beschlossen die Familien, das Geschäft zu verkaufen. Silvia und Wolfgang Fechner zogen nach Süddeutschland und gründeten hier ihre Familie.
Auch nach dem Verkauf wurde in der Königstraße 45 weiterhin Kleidung angeboten. Heute befindet sich in den Erdgeschossräumen eine Filiale der Modekette „Jack & Jones“.
Gleich daneben betreibt Karin Fritsch die „Lotterie-Einnahme Rose-Marie Thormählen“, die auf der Lizenz als Lotto-Annahmestelle der Familie Thormählen im Jahre 1909 wurzelt. Der kleine Laden ist nicht nur kaum breiter als eine normale Eingangstür, auch nach hinten bietet die Geschäftsfläche kaum Platz. Aber bei gutem Wetter werden seit Jahren an dieser Stelle die Zeitschriftenständer vor die Tür in die Fußgängerzone gerollt. Im Geschäft verkauft Karin Fritsch von der schmalen Theke aus weitere Zeitungen und Zeitschriften sowie Tabakwaren.