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Von der Essigmühle zum Friseursalon

Das mit gelben Klinkern besetzte Haus in der Königstraße 57 kommt unscheinbar daher. Gleich zwei der drei Gewerbeflächen stehen seit Ende des Jahres 2019 verlassen und reihen sich ein in die Vielzahl von Leerständen in der Elmshorner Innenstadt. Doch entgegen seiner äußeren Erscheinung blickt das Haus auf eine mehr als 160-jährige Geschichte zurück.

Die Zeit der Familie Meyn in Elmshorn begann mit Ernst und Metta Meyn. Gemeinsam zog das Ehepaar im frühen 19. Jahrhundert nach Elmshorn. 1849 erwarb Ernst Meyn ein Grundstück auf dem Wedenkamp, welches später einmal die Königstraße 57 werden sollte.

Damals reichte das erworbene Gelände bis zum Krückauufer und wurde landwirtschaftlich genutzt. Wo später ein Reformhaus seinen Platz fand, ließ ein Einfahrtstor genügend Platz, um mit Pferde- und Ochsengespannen mittig durch eine Diele bis zu den Ställen zu fahren. Über Jahre fanden sich hier Schweine, Kühe und Pferde unmittelbar in der Innenstadt.

Das Haus in der Königstraße 57, um 1893. Foto: Privatbesitz

Die seit 1853 von Ernst Meyn vertriebenen Spirituosen und Essige stellte die Familie zum größten Teil im eigenen Betrieb her. Getreide und Obst wurden dafür auf Darren getrocknet, notwendige Gerätschaften wie Destillierapparat sowie eine eigene Essigkammer befanden sich unmittelbar an das Wohnhaus angegliedert. Für den Handel vorgesehene Genussmittel, wie Wein, wurden in Fässern geliefert und im Gewölbekeller auf Flaschen umgefüllt.

Auf der Flurkarte deutlich erkennbar: das Grundstück der Königstraße 57 zog sich bis zur Krückau. Abzeichnung der Flurkarte von 1948: Privatarchiv

Geschäftsübernahme

1880 übernahm der Sohn Diedrich Albrecht Meyn den Laden. Er stellte den Betrieb der Grützmühle ein und modernisierte das Geschäft. Die Einstellung der Mühle machte die bis dahin als Durchfahrt genutzte Diele überflüssig. Sie wurde für die „Spirituosenhandlung Diedrich Meyn“ zu einem Ausschank umgebaut.

Bereits 1912 verstarb Diedrich Meyn. Das Geschäft wurde seinem ältesten Sohn Ernst übertragen, der bis dahin als Schiffsingenieur tätig war und wohl aus Traditionsbewusstsein zurück in sein Elternhaus kehrte. Während des Ersten Weltkrieges ruhte sowohl der in der ehemaligen Diele eingerichtete Tagesausschank als auch der Großhandel.

„Essigmeyn“

1922 heiratete Ernst Meyn seine zweite Frau Elly Haack, die durch ihre warmherzige Art zu einer bekannten Elmshorner Persönlichkeit wurde. Zu dem Hausstand in der Königstraße 57, den Elly fortan führte, gehörte neben dem 1919 geborenen Sohn von Ernst Meyn auch sein jüngster Bruder Diedrich Heinrich. Im April 1927 kam der gemeinsame Sohn Karl Wilhelm zur Welt.

Zwischen den Weltkriegen gedieh nicht nur der Groß- und Einzelhandel mit Weinen, Spirituosen und Essig, sondern auch der Dielenausschank erfreute sich immer größerer Beliebtheit. Elly und Ernst Meyn nahmen 1930 erste Umbaumaßnahmen vor und errichteten in dem bis dahin als Herrenzimmer genutzten Raum ein sogenanntes Ladenlokal. Heute befindet sich hier der Friseursalon „Sweet Friseur“.

Das umgebaute Herrenzimmer im Erdgeschoss wurde seit den 1930er Jahren als Ladenlokal betrieben. Heute befindet sich hier der Friseursalon „Sweet Friseur“. Foto: Privatbesitz
Ernst Meyn bediente 1930 seinen ersten Kunden in dem neu errichteten Ladenlokal. Foto: Privatbesitz

Als Ernst Meyn zu Beginn des Jahres 1935 verstarb, übernahm Otto Möhring die Vormundschaft für den erst achtjährigen Karl Wilhelm. Möhring war nicht nur der beste Freund Ernst Meyns, sondern betrieb in dem gegenüberliegenden Gebäude ebenfalls einen Ausschank sowie ein Ladenlokal für den Verkauf von Spirituosen, Wein und Bier. Witwe Elly erhielt von der NS-Regierung eine kurzfristige Sondergenehmigung, das Geschäft als Frau weiterführen zu dürfen. Für die kommenden Jahre übertrug sie ihrem Schwager Hermann Gediga die Geschäfte.

Schon Ernsts Vater Diedrich Meyn (2. v. links) verband eine enge Freundschaft zu der Familie Möhring (Johannes Möhring, 2. v. rechts). Das Foto wurde im Garten der Königstraße 57 aufgenommen, der bis in die 1960er Jahre bis zur Krückau reichte. Foto: Privatarchiv

„Elmshorner Tropfen“

Hermann Gediga war es auch, der die Zusammensetzung des beliebten Kräuterlikörs „Elmshorner Tropfen“ entwickelte. Er führte die Geschäfte in der Königstraße, bis der Kriegsbeginn 1939 zu einer vorübergehenden Einstellung der Tätigkeiten in Ausschank und Vertrieb führte. Viele Elmshorner*innen kannten den Spruch: „Wat brukt wi Hitler und Göring, wi hebt jo Meyn un Möhring.“

Elmshorner Tropfen“, Sammlung IME

Kriegsende und Jubiläum

Nach Kriegsende 1945 fanden viele aus dem Osten Geflüchtete in Elmshorn eine neue Heimat. Einquartiert wurden sie zunächst in den von den Bombenangriffen verschont gebliebenen Wohnhäusern. Auch in der Königstraße 57 lebten nun unterschiedliche Familien. Das noch immer brachliegende Ladenlokal wurde nun vorübergehend an Wilhelm Hansen vermietet, dessen Geschäft in der Königstraße 40 ausgebombt war.

Als 1949 das 100-jährige Firmenjubiläum von Meyn anstand, war auch die Wirtschaft langsam wieder in Gang gekommen. Für Elly Meyn stand fest, dass ihr Sohn nun die Geschäfte übernehmen würde.

Nachdem Lore und Karl Wilhelm 1952 heirateten, lebten sie gemeinsam mit Elly Meyn in der Königstraße 57. Foto: Privatarchiv

Nachdem das „Modehaus Hansen“ wieder eigene Räumlichkeiten beziehen konnte, nahmen Karl Wilhelm und seine 1952 geheiratete Frau Lore auch den Betrieb des Ladenlokals wieder auf.

Umbau und Vermietung

Die Wirtschaftswunderjahre der 1950er wirkten sich auch auf den Betrieb in der Königstraße 57 aus. Gemeinsam begannen Lore und Karl Wilhelm Meyn damit, eine Vielzahl von Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen in Angriff zu nehmen. Zu der damaligen Zeit war die Königstraße als Haupteinkaufsstraße der Stadt noch für Fahrzeuge passierbar. Um die Verkaufsräume optimal nutzen zu können, überzeugte das junge Paar (Schwieger-) Mutter Elly, die Wohnräume sowie die Küche aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock des Hauses zu verlegen. So entstand auch links des Dieleneingangs eine Ladenfläche, auf welcher im Mai 1959 die „Rosen-Apotheke“ eröffnete.

In den 1960er Jahren veränderte sich allmählich die Wirtschaft. Mit einer Filiale des „Deutschen Supermarktes“ eröffnete auch in der Königstraße ein für damalige Verhältnisse großer Einkaufsmarkt mit Selbstbedienung in Elmshorn und Kund*innen griffen mehr und mehr auf entsprechende Einkaufsmöglichkeiten zurück. Auch die Großkundschaft der Familie Meyn nutzte das neue Warenangebot. Durch das Aufkommen von Discountern mit günstigen Eigenmarken und die Aufhebung der Preisbindung 1974 begannen viele Einzelhandelsgeschäfte, um ihre Existenz zu fürchten.

1958 erfolgte der Umbau des Erdgeschosses, infolge dessen eine zweite Ladenfläche entstand. Auf dem Foto steht Christian Meyn, der älteste Sohn Lore und Karl Wilhelms, vor dem Geschäft der Familie. Foto: Privatarchiv

Vom Ausschank zum Reformhaus

Auch Lore und Karl Wilhelm Meyn verlagerten ihren Verkaufsschwerpunkt auf das Ladenlokal sowie den Dielenausschank und stellten den Verkauf an Großabnehmer*innen ein. Zudem entschlossen sie sich zu Beginn der 1970er Jahre zu einer beruflichen Umorientierung. Nach einer Weiterbildung eröffneten sie im Oktober 1971 das „Reformhaus Meyn“. Der Dielenausschank lief zunächst noch parallel weiter. Die zwei gegensätzlichen Sortimente brachten viele Elmshorner*innen zum Schmunzeln.

Reformhaus und Stadtcafé

Zeitgleich ereigneten sich auch in der Königstraße Umbaumaßnahmen – der Bereich zwischen der Nikolai-Kirche und der Holstenstraße wurde für den Verkehr gesperrt und zur Fußgängerzone. Durch den Bau des City Centers Elmshorn (CCE) sowie des Kaufhauses „Hertie“ verlagerte sich auch der Geschäftsschwerpunkt von einem Ende der Königstraße zum anderen.

Zunächst noch in dem ehemaligen Ladenlokal auf der rechten Gewerbefläche untergebracht, entschied sich das Ehepaar Meyn, das gut laufende Reformhaus zu erweitern. In mehreren Schritten wurde der Dielengang zur Ladenfläche umgebaut. Der an den Gang anschließende Innenhof wurde überdacht und die gewonnene Fläche zusätzlich als Verkaufsraum für das Reformhaus genutzt. Die Familie räumte ihr Büro, das sich bis dahin im Erdgeschoss der rechten Haushälfte befand, und machte so Platz für eine Caféfläche. Hier eröffnete im Juni 1980 das „Stadtcafé“ seine Türen.

Seit 1972 ist der westliche Teil der Königstraße Fußgängerzone. Das Reformhaus ist auf diesem Foto bereits um den ehemaligen Dielenausschank erweitert. Vor dem Laden: Lore und Karl Wilhelm Meyn. Foto: Privatarchiv

Erweiterung mit „Kornkammer“

Nach ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben zum Mai 1984 verpachteten Lore und Karl Wilhelm Meyn das Reformhaus an die Familie Wilding. Auch unter der neuen Leitung wurde das mehr als 100 Jahre alte Gebäude am Ende der Königstraße weiter umgebaut. Eine „Kornkammer“ im Hintergebäude lockte mit Bioprodukten und frischen Backwaren.295

Seit 1980 befanden sich in der Königstraße 57 drei Ladengeschäfte: Die „Rosen-Apotheke“ (bis 2017), das „Reformhaus Meyn“ in der ehemaligen Diele (bis 2019) und das „Stadtcafé“ (bis ca. 2008). Foto: Privatarchiv

Besitzerwechsel

Nach dem Auszug Ellys in den frühen 1980er Jahren wurden auch die oberen Stockwerke gewerblich genutzt und dienten den entsprechenden Mieter*innen und Pächter*innen als Aufenthalts-, Lagerraum oder Büro. Letzte Umbaumaßnahmen erfolgten Mitte der 1990er Jahre, als die Eingangsbereiche der Apotheke sowie des Cafés erneuert wurden. Nachdem das „Stadtcafé“ seinen Betrieb aufgab, eröffnete im August 2008 zunächst der Friseursalon „Show Cut“ rechts neben dem Reformhaus. Später übernahm Kaba Kemal den Salon und führte ihn als „Sweet Friseur“ weiter. Die Familie Meyn verkaufte an ihn im Juli 2017 das Gebäude in der Königstraße samt des mehr als 500 m² großen Grundstücks.

Nachdem die „Rosen-Apotheke“ im März 2017 schloss, zog Ende 2019 auch das Reformhaus aus. Die Familie Kemal nimmt seitdem umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen an dem Haus vor und möchte den Friseursalon, mittlerweile geführt von dem Sohn, erweitern.

Derzeit stehen zwei der drei Gewerbeflächen in der Königstraße 57 leer. In den vergangenen Jahrzehnten befanden sich hier die Wohnräume der Familie Meyn, ein Ladenlokal, ein Reformhaus, ein Café und seit nun mehr als 10 Jahren ein Friseursalon. Foto: Stadtmarketing Elmshorn

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